Serie zum Mauerfall-Jubiläum

Laudatio von Sven Grünewald zum 3. Preis an Claudia Nachtwey

Sehr geehrte Damen und Herren,

2015 02 07 Alexanderpreis 18sieben große Artikel umfasst die Serie, welche Claudia Nachtwey im Eichsfelder Tageblatt über ein Vierteljahr verteilt veröffentlich hat. Das große Thema: 25 Jahre Mauerfall.
Die Duderstädterin Nachtwey unternimmt darin Grenzgang und Grenzüberschreitung im wahrsten Sinne des Wortes. Und es zeigt sich: Die wechselseitige Geschichte des Eichsfelds in Ost und West war alles andere als erstarrt, sondern im Gegenteil durchaus ereignisreich. Nachtwey widmet sich verschiedensten Aspekten, wie der Streifzug durch ihre Artikelserie zeigt:

1. Artikel: Wie es zum Aufbau der Grenzbefestigungen überhaupt kam, die innerdeutsche Teilung und im Speziellen, warum das Eichsfeld geteilt wurde (Sonderabsprache der Besatzungsmächte).
2. Artikel: Karl-Heinz Rothensee, genannt Charlie aus Brehme, Fluchtversuch mit 19, 3 Jahre Zuchthaus, geschnappt.
3. Artikel: Grenzzwischenfall am Pferdeberg 1964 – DDR Grenzer stecken eine neue Grenzziehung ab, der BGS zieht die Pflöcke wieder heraus und wirft sie auf die Ostseite zurück.
4. Artikel: Der kleine Grenzverkehr ab 1973, Geldabzocke durch die Grenzer (Umtauschzwang, Straßennutzungsgebühr), Fahrt von Verleger Helmut Mecke aus Duderstadt zur Leipziger Buchmesse.
5. Artikel: Paterhof bei Fuhrbach, 150 Meter von der Grenze weg, Familie Hackethal hat viel Land verloren und stellt sich die Frage: Zu wem gehören wir?
6. Artikel: Enteignungen im Sperrgebiet: Lucie Zinke, Wirtin aus Ecklingerode (Ost) an die Verwandtschaft in Fuhrbach: Zitiert wird aus einem langen Brief, der die Vergenossenschaftungsbestrebungen der landwirtschaftlichen Betriebe beschreibt, die Einschüchterung und wie sich die Bauern in diesem Jahr (1960) noch behaupten konnten.
7. Artikel: Die Mauer fällt, die Reisebeschränkungen werden aufgehoben und zwischen den Dörfern Nesselröden (West) und Böseckendorf (Ost) wird auf lokale gemeinsame Initiative hin ein Grenzübergang geschaffen.

In der Reportageserie gewinnt die innerdeutsche Teilung dadurch eine besondere Plastizität, dass Nachtwey das Weltgeschehen auf so engem Raum, von Dorf zu Dorf, von Nachbar zu Nachbar, von Familienbanden über die nahe Grenze hinweg erzählt. Der abstrakte Ost-West-Konflikt, die waffenstarrende Konfrontation des Kalten Kriegs, Kennedy und Luftbrücke sind hier weit weg, dafür macht Nachtwey die Alltäglichkeit der Trennung nachvollziehbar und anschaulich, macht begreifbar was es heißt, in einer Diktatur zu leben – oder auf der westlichen Seite der Grenze nur einen Steinwurf von Minengürtel und Maschinengewehren entfernt.
Mehr als einmal bei der Lektüre hat man das Gefühl, selbst den Kopf einziehen zu müssen. Etwa wenn sie von Charlie Rothensees Flucht erzählt:
„Dann der Ruf: „Stehen bleiben! Hände Hoch!“ Ein Grenzposten trat mit dem Gewehr im Anschlag aus dem Fichtendickicht. „Wir konnten nicht sehen, wie viele dort noch hinter den Bäumen lauerten“, sagt Rothensee. Er sprang auf und rannte.
Er hörte die Schüsse, die auf ihn abgefeuert wurden. Er wäre weiter gerannt, bis in den Westen – wenn ihn vorher nicht eine der Minen auf dem Todesstreifen erwischen würde. Aber bis dorthin kam er nicht. „Ich konnte nicht mehr. Ich war so erschöpft, dass ich nicht weiterlaufen konnte.“
Erst als der NVA-Soldat ihm den Stiefel in den Nacken stemmte und sein Magazin wechselte, wurde dem Flüchtling klar, wie knapp er dem Tod entkommen war. Rothensee schüttelt immer noch ungläubig den Kopf bei den aufsteigenden Bildern der Vergangenheit.“
Oft ist man sprichwörtlich dabei, wenn man Nachtweys Grenz-Reportagen liest. Es ist der Autorin hoch anzurechnen, dass sie sehr viel Mühe auf das Ausfindigmachen der Zeitzeugen verwendet hat und diese und ihre Erlebnisse so lebendig wiedergibt. Zusammen mit ihrem guten Stil ergibt sich ein Lesevergnügen – so weit es das ernste Thema zulässt.
In seiner Unmittelbarkeit ist das Thema gerade für die Region Südniedersachsen prägend und nicht wenige hier werden sich an die im guten Sinne chaotischen Tage zum Jahresende 1989 erinnern. Die vielen Geschichten lebendig zu halten, wie es Claudia Nachtwey getan hat, ist für die Erinnerungskultur in Deutschland wichtig. Dabei ist es ein Privileg, dass wir hier so dicht an diesen weltbewegenden Ereignissen dran waren und sie aus erster Hand bezeugen konnten. Das verschafft, so weit es mich zumindest betrifft, eine besondere Perspektive auf dieses wichtige Kapitel innerdeutscher Geschichte. Dass das keine Selbstverständlichkeit ist, wird deutlich, wenn man sich einmal mit Süddeutschen oder Rheinländern oder Ostfriesen unterhält, die eine völlig andere Beziehung zur Wiedervereinigung haben, weil ihnen dieser persönliche Bezug fehlt.

Vielleicht noch ein Wunsch für zukünftige Ost-West-Artikel: Geschichte wird von den Siegern geschrieben und die DDR kommt in der bundesrepublikanischen Geschichtsschreibung nicht gut weg. Doch wäre es vielleicht einmal eine spannende Aufgabe, sich auf die Spurensuche dessen zu machen, was den Thüringern durch die Wiedervereinigung verloren gegangen ist. Quasi: Die Banane kam, doch die Spreegurke ging.

In diesem Sinne gratuliere ich Ihnen zur Artikelserie und dem dritten Platz.