Als die Hannoveraner Preußen wurde

Laudatio von Heinz Peter Lohse zum 3. Preis von Klaus Wettig

Stellen Sie sich vor: Es ist Freitag. Das Wochenende beginnt. Plötzlich kommen so viele Menschen nach Göttingen und in die Orte der näheren Umgebung, dass sich die Einwohnerzahl schlagartig   mehr als verdoppelt. Von zurzeit rund 119.000 auf mehr als 250.000 Menschen in der Stadt. Es würde reichlich eng werden in Göttingen. Das Gedränge in den Straßen, auf den Plätzen und in Kneipen und Cafés wäre heftig. Und: Wo könnten so viele Menschen übernachten, wie könnten sie sich verpflegen?

So ähnlich war es an einem Juni-Wochenende vor gut 150 Jahren. Allerdings auf einem zahlenmäßig viel niedrigeren Niveau. Göttingen zählte damals gerade mal 15.000 Einwohner. 17.000 Soldaten rückten in Göttingen ein. Die gefühlten Auswirkungen mögen dennoch ähnlich gewesen sein.

Klaus Wettig erzählt es im Göttinger Tageblatt vom 20. Juni 2016: „Als die Hannoveraner Preußen wurden. Die Schlacht von Langensalza. Vor 150 Jahren lagerte König Georg V. mit seinen Truppen in und um Göttingen“. In seinem Beitrag erinnert der Autor an ein Wochenende im Juni 1866, an dem in Göttingen drei Tage lang internationale Politik entschieden wurde.

Was war damals los? Es gab Streit im Deutschen  Bund. In diesem waren zu der Zeit 35 Staaten Mitglied. 31 Fürstentümer und vier freie Städte. Neben den deutschen Beteiligten waren auch Dänemark (Lauenburg und Holstein), die Niederlande (Luxemburg) im deutschen Bund.

Anlass des Streits war die „Schleswig-Holstein-Frage“. Preußen und Österreich, die Großmächte im damaligen Deutschen Bund, konnten sich nicht einigen, wie mit Schleswig und Holstein zu verfahren sei. Das Herzogtum Holstein war preußisch verwaltet, Schleswig österreichisch. Preußen wollte jedoch ganz Schleswig-Holstein annektieren.

Was aber hatte ausgerechnet Göttingen damit zu schaffen? Nun, Göttingen gehörte zum Königreich Hannover. Das war lediglich ein Mittelstaat im Deutschen Bund. König Georg V. konnte sich keine eigenständige Politik leisten, sondern musste mit anderen Mittelstaaten kooperieren und sich der einen oder anderen Großmacht annähern. Der Welf Georg V. mochte die Preußen nicht. Er schlug sich auf die Seite der Österreicher. Preußen hatte ihm den Krieg erklärt. Allein wollten die Hannoveraner jedoch nicht gegen Preußen kämpfen.

Das Königreich Hannover grenzte im Westen und Osten an preußisches Gebiet, von dort kamen die preußischen Truppen. Also konnten die Hannoveraner nur nach Süden ausweichen - in Richtung Göttingen.

Klaus Wettig schildert, wie es im Juni 1866 in Göttingen zugegangen sein mochte. Tagelang kamen Soldaten in die Stadt. Zu Fuß, zu Pferd oder mit der Bahn. Die Stadt war viel zu klein, um so vielen   Soldaten Quartier und Verpflegung bieten zu können. Also wichen die Soldaten auf nahezu alle Gemeinden im Landkreis aus: Holtensen, Lenglern, Elliehausen, Wibbecke, Erbsen, Barterode, Esebeck, Bovenden, Eddigehausen, Parensen, Angerstein, Wolbrechtshausen, Niedernjesa, Obernjesa, Stockhausen, Sieboldshausen, Rosdorf, Grone und Weende. Und selbst im Landkreis Münden wimmelte es von Soldaten. Zusätzlich zu den Soldaten waren einige tausend Pferde zu versorgen.

Und am 16. Juni, einem Samstag, kam dann auch noch der König nach Göttingen. Vier Tage residierte Georg V. mit seinem Gefolge im Hotel zur Krone in der Weender Straße.

Göttingen gehörte zum Königreich Hannover, das mit den Fürstentümern Sachsen, Hessen-Darmstadt, Nassau, Kurhessen Württemberg und Bayern die österreichische Position vertrat, also gegen eine Annexion Schleswigs und Holsteins war.

Seit dem Monat Mai 1866 habe sich eine militärische Lösung des Konfliktes abgezeichnet, schreibt Klaus Wettig.

Die hannöversche Armee habe sich zwar im alljährlichen Sommermanöver befunden, sei aber unorganisiert und schlecht ausgerüstet gewesen. Zudem sei sie den Preußen zahlenmäßig unterlegen gewesen.

Die Preußen hätten sich auf eine Schlacht bei Göttingen eingestellt. Um bei Göttingen nicht eingekesselt zu werden, seien die Hannoveraner Richtung Südosten ausgewichen. In der Hoffnung, dort schnell zu den verbündeten Bayern und Kurhessen zu stoßen. Doch die hätten gekniffen. Die Kurhessen wollten nicht kämpfen und zogen sich nach Süden zurück. Und die Bayern? Hätten auch keine Lust auf Kampf gehabt und seien in Schweinfurt geblieben.

Nach kräfteraubenden Gewaltmärschen hätten die hannöverschen Soldaten Langensalza erreicht. Kapitulation sei für Georg V. keine Option gewesen. Folglich kam es am 26. Juni bei Langensalza zur Schlacht mit den Preußen. Der Ausgang ist bekannt. Die Hannoveraner gewannen, konnten ihren Sieg aber nicht nutzen. Die Soldaten waren erschöpft und ausgelaugt. Zu groß seien die Anstrengungen der langen Märsche und der Schlacht gewesen, zu mangelhaft die Versorgungslage.

Einen Tag später kapitulierte Georg V. auf Anraten seiner Generäle.

Die Kapitulation wurde ehrenvoll abgewickelt, schreibt Klaus Wettig. Der König und sein Gefolge durften das Schlachtfeld verlassen. Die Offiziere wurden entlassen, sie erhielten weiter Gehalt. Den Soldaten wurde das Versprechen abgenommen, nicht gegen Preußen zu kämpfen, dann konnten sie nach Hause gehen.

Der Krieg jedoch ging weiter. Preußen besiegte Österreich am 3. Juli bei Königgrätz, später wurde in Prag Frieden geschlossen - unter französischer und russischer Beteiligung.

Frieden gab es auch mit den süddeutschen Staaten. Einige Länder mussten Kriegsentschädigungen zahlen. Preußen einverleibte sich Hannover, Kurhessen, Nassau und die freie Stadt Frankfurt. Der Deutsche Bund war dadurch Geschichte. Es folgte der Norddeutsche Bund unter Federführung Preußens, der vier Jahre später - 1871 - die Einheit des Reiches zur Folge hatte.

Aber keiner der Friedensverträge konnte den Streit um die Annexion Hannovers beenden, so Wettig.

König Georg V. habe nie die Annexion seines Königreiches akzeptiert. Er wollte nicht auf seinen Thron verzichten und lehnte die angebotenen Entschädigungen ab. Das beschlagnahmte Vermögen des Königshauses floss in einen sogenannten „Reptilienfonds“, so Wettig. Aus diesem habe der Preuße Bismarck verschiedene subversive Aktionen finanziert. Die Welfen mussten jedoch keine Not leiden. Sie hatten einen guten Teil ihres Vermögens bereits bei ihrer englischen Verwandtschaft untergebracht.

Die Stimmung im alten Königreich, der neuen Provinz Hannover blieb antipreußisch, vor allem in den ländlichen Gebieten. „Welfische Legion“ und eine ausgeprägte Gedenkkultur sind hier die Stichworte. Mit Gedenksteinen und Denkmälern wollten die welfentreuen Bürger in der neuen Provinz an die tapferen hannöverschen Soldaten erinnern.

So auch in Göttingen, wo 1869 mit privatem Geld das Monument vor dem Wall errichtet wurde. Und das in der Folgezeit immer wieder zu Spannungen führte.

Emotional und politisch habe die unbeantwortete „welfische Frage“ noch lange mobilisiert, schreibt Klaus Wettig in seinem Beitrag. Und er spannt den Bogen über die Weimarer Republik und die NS-Zeit bis in die fünfziger und sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Stichwort hier: „DP“ – die Deutsche Partei. Die löste sich erst in den sechziger Jahren auf, als ihre Mitglieder zur CDU bzw. FDP wechselten.

Politisch scheint das Thema ausdiskutiert.

Eine Untersuchung wert wäre es, ob sich die „welfische Frage“ heute noch im sportlichen Bereich auswirkt. Vielleicht liegt hier die Erklärung für den Umstand, dass sich die Fußballfans von Eintracht Braunschweig und Hannover 96 in ausgesprochen tiefer Abneigung zugetan sind. Aber das wäre dann Stoff für eine neue Geschichte.

Die Jury der Alexanderstiftung hat Klaus Wettig für seinen Beitrag im Göttinger Tageblatt einen dritten Preis zugesprochen.