Frei in der Zelle - Die Wandmalereien von Julius Klingebiel

Laudatio von André Schüller zum 3. Preis an Heidi Niemann

Sehr geehrte Damen und Herren,

20180203 005ich bin jetzt seit ca. 6 Jahren hier in Göttingen. Wenn mich jemand fragt, was wichtige Themen in Göttingen sind, dann ist man relativ schnell bei drei Oberbegriffen: Kultur, Universität und Immobilien. Alle drei große Themen in dieser Stadt, neben vielen, vielen anderen.

In dem von mir zu besprechenden Artikel geht es um Teilbereiche dieser Oberbegriffe. Lassen Sie mich beginnen mit dem Thema Immobilie. 2320 m² Nutzfläche auf einem 9000 m² großen Grundstück in ruhiger Lage am südlichen Stadtrand von Göttingen. Nein, keine Anzeige bei Immoscout, sondern eine Liegenschaft im Tonkuhlenweg 23, welche sich im Eigentum des Landes Niedersachsen befindet. Das Gebäude sieht aus wie eine Festung mit meterhohen Mauern umgeben. Es handelt sich um das sogenannte „Feste Haus“, welches 1909 als zusätzliche Einrichtung der damaligen königlichen Landesirrenanstalt zu Göttingen erbaut wurde. Das Land Niedersachsen steht nun vor der Frage, wie diese Immobilie genutzt werden könnte.

Der zweite Bereich – Kultur – bezieht sich in dem zu ehrenden Artikel auf ein Kunstwerk von internationaler Bedeutung. Es handelt sich um ein sogenanntes Werk der Outsider-Kunst. Konkret geht es um die Raumausmalung der Zelle 117 des Julius Klingebiel. Dieser war als psychisch Gestörter 12 Jahre lang in dieser Zelle eingesperrt. Dort bemalte er sämtliche Wände mit verschiedensten Graphiken und Zeichen mit selbst hergestellter Farbe.

Kommen wir zum dritten Punkt – Universität, hier: Psychiatrie in Göttingen. Über die Kunst von Klingebiel und seine persönliche Geschichte erhalten wir einen intensiven Einblick in die Psychiatrie in der Nazi-Zeit. Gleichzeitig geht die Verfasserin aber auch insgesamt auf die letzten 150 Jahre Psychiatrie ein. Sie arbeitet heraus, dass hinter der Berliner Charité und der Universität München, Göttingen die dritte Universitäts-psychiatrie in Deutschland darstellte. Im Weiteren geht die Verfasserin auf die verschiedenen Klinikleiter ein. Sie beschreibt das Wirken des damaligen Leiters Gottfried Ewald, der in der Zeit Klingebiels als Klinikleiter fungierte. Dieser befürwortete zwar die Zwangssterilisation von psychisch Kranken, war aber auch der erste Psychiater, der im Jahre 1940 eine Denkschrift gegen das Euthanasie-Programm zur Ermordung psychisch Kranker verfasste und auch zahlreiche Patienten vor der Deportation bewahrte.

Der erste Klinikleiter in Göttingen war Ludwig Meyer, der gleichzeitig die neu eingerichtete Professur für das Studienfach Psychologie an der Georg-August-Universität übernahm. Meyer war ein Verfechter der freiheitlichen Psychiatrie, die auf Zwangsmittel weitgehend verzichtete. Besonderes Aufsehen erregte er, als er Zwangsjacken versteigern ließ.

Später wurde Ernst Schultze zum Göttinger Klinikdirektor. Im Jahre 1924 fertigte er ein psychiatrisches Gutachten über Fritz Haarmann an. Dessen Geschichte und vor allem die Verhörprotokolle von Schultzes Gesprächen dienten als Grundlage für den preisgekrönten Film „Der Totmacher“ mit Götz George in der Hauptrolle. Nach der Verurteilung zum Tode durch Enthaupten wurde der Kopf Haarmanns in der Universität Göttingen zu Forschungszwecken verwahrt, bis er 2014 eingeäschert wurde.

Die wichtigste Persönlichkeit für die Psychiatrie ist wohl der spätere Klinikleiter Ulrich Venzlaff, der als Pionier der forensischen Psychiatrie in Deutschland gilt und dessen Handbuch „Psychiatrische Begutachtung“ bis heute das Standardwerk für Mediziner und Juristen darstellt.

Wie Sie sehen schafft die Autorin dieses Artikels es, drei große Bereiche in Göttingen in einem Text zu beleuchten. Dabei erforscht sie die Vergangenheit der Stadt Göttingen. Ihr Artikel ist betont journalistisch, das heißt wahrheitsgetreu. Und fast vergessene und gerne übersehene Themen werden aufgegriffen. Das alles beschreibt sie allgemein verständlich auf ganz wenigen Seiten. Diese letzten Attribute legte Wolfgang Alexander bei der Gründung der Stiftung für eine jährliche Preisverleihung fest. Insofern geht aus Sicht des Kuratoriums kein Weg an der Verleihung des dritten Preises der Alexanderstiftung an Heidi Niemann vorbei. Frau Niemann hat den Artikel „Frei in der Zelle“ verfasst! Sie schafft es, mit einer großen Klammer um Klingebiel viele Aspekte zu beleuchten! Herzlichen Glückwunsch.