Das Schweigen der Boat People

Laudatio von Sybille Bertram für den Preisträger Thomas Kopietz

alexanderpreis2020 4In dem Beitrag, den wir heute auszeichnen, geht es um Krieg. Um einen Krieg, der fast 50 Jahre zurück liegt und fast 10.000 Kilometer von uns entfernt. Einen Krieg, der die Welt bewegt hat – und dessen Folgen Göttingen bewegt haben. Es geht um die Folgen des Vietnam-Krieges und es geht um die Boat People. 1,6 Millionen Vietnamesinnen und Vietnamesen sind nach dem Ende des Vietnamkrieges vor der Verfolgung durch die siegreichen Kommunisten geflüchtet – eine viertel Millionen Menschen sind auf der Flucht im südchinesischen Meer ertrunken.

Niedersachen hat 1978 rund 1000 dieser Boat People aufgenommen. Sie sind über Hannover eingeflogen – sie kamen nach Friedland – und in Göttingen wurde sozusagen über Nacht eine medizinische Erstaufnahme aus dem Boden gestampft – da wurden die Boat People untersucht und medizinisch versorgt.

Thomas Kopietz hat für die HNA-Sonntagszeit die Geschichte dieser Boat-People-Klinik aufgeschrieben. Er lässt diese Zeit noch einmal lebendig werden, indem er sehr anschaulich aufschreibt, was das in ganz kurzer Zeit organisiert worden ist. Man erlebt, wie alle Beteiligten die Ärmel hochkrempeln und loslegen.

Geld spielt keine Rolle, heißt es aus Hannover – und in Göttingen redet niemand von Überstunden. Alle packen an rund um die Uhr – die alte Klinik in der Goßlerstraße wird hergerichtet. Erfahrene Schwestern und Pfleger kümmern sich um die Boat People. Ehrenamtliche Helfer unterstützen sie.

In dem Beitrag von Thomas Kopietz ist man mitten drin in diesem Bienenstock. Man spürt die Anspannung, man spürt aber auch die Anteilnahme, man freut sich mit über das erste Baby der Boat People, das kurz vor Weihnachten in Göttingen zur Welt kommt, man amüsiert sich über Politiker, die vor allem fernsehtaugliche Bilder wollen und die auf Ärzte treffen, die anderes für wichtiger halten .

Diejenigen, die damals dabei waren, sagen, diese Wochen haben ihr Leben geprägt – schreibt Kopietz. Namentlich ist es Professor Hilmar Burchardi , der mit dem Autor auf die Zeitreise ins Jahr 1978 gegangen ist.

Kopietz schreibt aber keine simple Heldengeschichte von selbstlosen Männern und Frauen, die tausend Geflüchteten unbürokratisch geholfen haben. Er schreibt auch über die Grenzen, an die die Helferinnen und Helfer kommen: Viele Boat People sprechen nicht – auch wenn es Dolmetscher gibt.

Und so trägt die optimistische Geschichte einen nachdenklichen Titel „Das Schweigen der Boat People“. Dieses Schweigen erleben wir auch heute wieder bei Geflüchteten, die zu uns kommen – unsere Boat People kommen über das Mittelmeer. Wir können Wunden verbinden, gebrochene Beine schienen, Hunger und Durst stillen und auch für ein Dach über dem Kopf sorgen. Traumatische Erfahrungen aber kann man nicht so schnell bewältigen. Was die Menschen zur Flucht getrieben hat, was sie Schreckliches auf ihrer Flucht erlebt haben, das sitzt tief. Da müssen Psychotherapeuten helfen - das dauert.

Thomas Kopietz erzählt eine fesselnde Geschichte über die Boat People der 70er Jahre, und die ist auch deshalb fesselnd, weil sie nicht überfrachtet ist mit Details. Fragen zur Historie, Fragen zur Person, die beantwortet er in kurzen schlanken Infobeiträgen, die er neben die Erzählung stellt. Und so entsteht ein bewegendes und informatives Stück zur Zeitgeschichte – und das passt – wie von Wolfgang Alexander gewünscht – auf eine Zeitungsseite. Ein Stück über einen Krieg, der weit zurück liegt, der Göttingen aber vor gut 40 Jahren genauso erreicht hat wie heute der Krieg in Syrien – ein historisches Thema, aber keins, das wir abhaken können.

Die Jury war von diesem glänzend geschriebenen Stück einhellig begeistert. Lieber Thomas Kopietz, ich freue mich, dass wir dir für den Beitrag „Das Schweigen der Boat People“ erschienen am 8.Dezember 2018 in der HNA-Sonntagszeit heute den 2. Preis der Alexanderstiftung überreichen dürfen.