Die Revolution in der Fußnote - Johann Friedrich Blumenbach

Laudatio von Ulla Borchard zum 1. Preis an Sven Grünewald

Den prämierten Text finden Sie hier: Die Revolution in der Fußnote - Johann Friedrich Blumenbach

Die Abbildung von fünf Schädeln und die Überschrift „Die Revolution in der Fußnote“ machen schon neugierig, bevor man den Text auch nur angelesen hat. Verfasst hat ihn Sven Grünewald, der bereits im vergangenen Jahr mit den 1. Preis der Alexander-Stiftung für seine Arbeit „Die Wiege der Luftraumforschung“ ausgezeichnet wurde. In seinem ausführlichen und vorzüglich bebilderten Artikel schildert er dieses Mal Leben und Wirken des Zoologen und Anthropologen Johann Friedrich Blumenbach, und beginnt (Zitat): „In einer Fußnote zur 4. Auflage des ‚Handbuchs der Naturgeschichte‘ tauchte der Hinweis auf, dass die Entstehung der Arten und sogar des Lebens an sich wahrscheinlich nicht Folge eines göttlichen Wunders seien, sondern von Naturgesetzen. Es war nicht irgendwer, der das 1791 sagte und damit ganz nebenbei ein theologisches Dogma untergrub.“ (Zitat Ende)

Blumenbach, 1752 in Gotha geboren, war zunächst Student in Jena. 1772 dann Wechsel nach Göttingen, Promotion und Professur. In dem geistig freien Klima der hiesigen Universität, deren theologische Fakultät kein Zensurrecht hatte, konnte der junge Wissenschaftler revolutionäre Ideen entwickeln und mithelfen, das theologische Schöpfungsdogma zu überwinden.

Johann Friedrich Blumenbach war einer der bedeutendsten Kritiker des damals herrschenden Glaubens an die Urzeugung und die Präformationslehre. Diese besagte, (Zitat) „ dass in dem von Gott geschaffenen ersten Exemplar aller Lebewesen sämtliche nachfolgenden Generationen bereits als vollständig entwickelte Individuen, wenn auch winzig klein, angelegt waren - wie in einer russischen Matrjoschka-Puppe.“ (Zitat Ende) Blumenbach bezweifelte das und formulierte ein Naturprinzip, das er „Bildungstrieb“ nannte. An Exemplaren des grünen Arm-Polypen aus einem Göttinger Teich bewies er, dass abgeschnittene Arme doch wieder nachwuchsen. Und aus Studien an Embryonen und Untersuchungen von Fossilienfunden folgerte er, so der Autor, dass es nicht eine einmalige Schöpfung gab, sondern dass Arten aussterben und sich dann neue bilden können. Das war eine These, die im ausgehenden 18. Jahrhundert eigentlich undenkbar war, hatte Gottes Schöpfung doch einen Vollkommenheitsanspruch.

 

Schon in seiner Dissertation über die ‚Varietäten des Menschengeschlechts‘ hatte Blumenbach versucht, den Facettenreichtum menschlicher Erscheinungen zu sortieren und die Menschheit grob in fünf Varietäten einzuteilen. Für Sie wie für mich zu komplexe Themen, auf die ich hier gar nicht weiter eingehen möchte. Erwähnen möchte ich aber die beeindruckende Aktualität des Blumenbachschen Denkens. Schon damals stellte er fest, dass (Zitat) „ die Rede von der Minderwertigkeit etwa der Schwarzen oder der Aborigines kompletter Nonsens war, denn diese seien hervorragend an ihren Lebensraum angepasst und somit in dieser Umgebung dem Weißen sogar deutlich überlegen. Und was den Mangel an Kultur-, Bildungs- und künstlerischen Leistungen anging – das war für ihn eine Frage der äußeren Rahmenbedingungen, nicht einer erblichen Dummheit.“(Zitat Ende)

Sven Grünewald hat den engagierten und couragierten Wissenschaftler mit großer Sorgfalt und beeindruckender Sympathie durch sein langes Leben begleitet. Er nennt ihn einen Mann der leisen Töne, einen, der immer sachlich und fundiert geblieben sei und sich durch sein diplomatisches, vermittelndes Naturell ausgezeichnet habe. Zeit seines Lebens habe Blumenbach auch nur einen einzigen Gelehrtenstreit geführt, und zwar mit dem Göttinger Philosophen Christoph Meiners. Dieser und Zeitgenossen wie Herder, Sömmering oder Kant hatten ein Konzept von Graduierung zwischen den Rassen formuliert. Vor allem Meiners hatte sich über die Minderwertigkeit der ‚Neger‘ und die damit legitimierbare Sklaverei geäußert, was Blumenbach allerdings nur zu Kommentaren wie ‚Schwätzer‘ und ‚Dilettant‘ verleitete. Und die Geschichte, so der Autor, habe ihm letztendlich Recht gegeben. Schon 1807 verbot das englische Parlament den Sklavenhandel, und es dauerte nicht mehr lange, bis sich der Humanismus durchsetzen konnte.

Johann Friedrich Blumenbach, Dreh- und Angelpunkt der Universität, genoss eine herausragende Reputation. Sendungen an ‚Blumenbach in Europa‘, so Grünewald, kamen bei ihm an, und mit einem Empfehlungsschreiben von ihm konnte man durch die ganze Welt reisen. Er selbst profitierte von seinem weit verzweigten wissenschaftlichen Korrespondenten-Netzwerk, das ihm Tor und Tür öffnete.

Stadt und Universität haben dem oft als Diplomat agierenden Wissenschaftler allerhand zu verdanken. Als Göttingen vorübergehend zum französischen Königreich Westphalen gehörte, war Blumenbach mit einer Gesandschaft nach Paris gereist. Er sprach bei Kaiser Napoléon Bonaparte persönlich vor und bewirkte - man höre und staune - dass nicht die Göttinger Universität aufgelöst wurde, sondern die Helmstedter. Einige Jahre später verhandelte er mit General Jean-Baptiste Bernadotte, dem Befehlshaber der Koalitionstruppen, so erfolgreich, dass die Stadt von Kanonenbeschuss und Plünderung verschont blieb. Nicht zuletzt war er es auch, der König Georg IV., davon überzeugen konnte, einen Teil der berühmten Cook-Sammlung nach Göttingen zu schicken. Beliebt wie Blumenbach war, sandten Kollegen aus aller Welt ihm für seine Forschung seltene Exponate. Manche erreichten ihn allerdings erst auf Umwegen. (Zitat): „So packe ich den Kopf aus Kintail zu meinen vier lebendigen Kindsköpfen in unseren guten Wagen und bringe ihn selbst in die Hände des geliebtesten und verehrtesten aller Großpapas‘, schrieb ihm seine resolute Schwiegertochter, an die versehentlich ein Schädel geliefert wurde.“ (Zitat Ende)

Sein nie ermüdendes Interesse an der Welt, habe ihn Reiseberichte förmlich verschlingen lassen, nicht zuletzt, weil er daraus vieles habe lernen können. Er selbst ist in den 88 Jahren seines Lebens wenig gereist. Sein Enthusiasmus für die Wissenschaft und seine Lebensfreude aber blieben ihm bis zum Schluss erhalten. Zu seinem Freund Georg Christoph Lichtenberg soll er einmal gesagt haben (Zitat) „Gucken Sie nach meinem Tode nach der Thränendrüse; Sie werden keine finden.“ (Zitat Ende)

Blumenbach, dem zu seinem 50. Doktorjubiläum mehr als 1 500 Persönlichkeiten gratulierten, geriet allerdings schnell in Vergessenheit. Wohl auch, weil kurz nach seinem Tod Darwin mit seiner Evolutionstheorie Furore machte und ihm die Show stahl. Doch jetzt bereitet ihm die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen ein furioses Comeback. Sieben Mitarbeiter arbeiten seit 2010 an der Bereitstellung der über tausend Blumenbach-Schriften in elektronischer Form. Hinzu kommen die bildliche Dokumentation und die Beschreibung der bisher in alle Winde verstreuten Blumenbachschen Sammlungsobjekte. Autor Sven Grünewald hat sich bei dem Akademie-Team schlau gemacht und mit Hilfe der Spezialisten die komplizierten Thesen und Theorien für die normalsterbliche Leserschaft aufbereitet. Text und Illustration sind dabei eine fruchtbare Symbiose eingegangen und verführen dazu, sich länger mit Johann Friedrich Blumenbach zu beschäftigen.

Da die Jury nicht nur die Fußnote gelesen hat, konnte sie sich uneingeschränkt über die hervorragende journalistische Arbeit von Sven Grünewald freuen. Sie hat ihm den 1. Preis zuerkannt und gratuliert ihm sehr herzlich.