Handel im Wandel - Die Blütezeit des Göttinger Tuchgewerbes

Laudatio von Jens Wortmann zum 1. Preis an Norman Lippert

2015 02 07 Alexanderpreis 22Wussten Sie, dass Göttingen von einem handfesten Wirtschaftskrieg profitiert hat? Es ist schon eine Weile her: zwischen 1358 und 1392 boykottierte die Hanse den Flandernhandel, niederländische Textilien wurden dadurch vom hanseatischen Handelsraum ausgeschlossen.

Göttingen war seinerzeit Mitglied der Hanse und „die Göttinger Kaufleute nutzten die in ihrer Heimatstadt gefertigten Stoffe als Ersatzprodukt. Innerhalb kürzester Zeit verbreiteten sich so die Göttinger Textilien im gesamten Wirtschaftsraum.“

Zumindest ich wusste das bislang noch nicht. Ich konnte es aber bei der Lektüre eines Textes erfahren, den wir heute in besonderer Weise würdigen wollen. Norman Lippert verfasste den Artikel zu den Göttinger Tuchmachern, der in der Ausgabe 2/2014 des Faktor-Magazins veröffentlicht worden ist. „Handel im Wandel“ ist der Text überschrieben, „Die Blütezeit des Göttinger Tuchgewerbes – eine Reise von gestern bis heute“ heißt es im Untertitel.
Versehen mit Photos aus dem Archiv des Städtischen Museums gibt Norman Lippert einen Einblick in diesen Teil der Göttinger Stadtgeschichte. Unser Stifter Wolfgang Alexander schrieb für die Alexanderstiftung vor, Texte auszuzeichnen, die „fast vergessene oder bisher übersehene Themen aufgreifen“. Das ist hier par excellence gelungen!

Anschaulich und spannend spannt Lippert den Bogen von der Hansezeit bis heute. Im Zeitstrahl gibt es allerdings eine Lücke: denn mit Ende der Hansezeit Göttingens im Jahre 1572 hatte Göttingen längst seinen wirtschaftlichen Zenit überschritten und verlor seine überregionale Bedeutung, auch weil sich die internationalen Handelswege stark verändert hatten.



Erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts gewannen die Göttinger Tuchmacher wieder an Bedeutung, zunächst durch den Auftrag von Herzog Ernst August für Uniformteile der Infanterie des Herzogtums. Zwar gewann so Göttingen wieder mehr an wirtschaftlicher Bedeutung, aber nennenswerte Absatzmärkte außerhalb der staatlichen Aufträge wurden von den Unternehmern nicht gefunden. Das änderte sich erst, als 1718 ein gewisser Johann Heinrich Grätzel in die Unternehmensnachfolge der „Churfürstlichen Fabrique“ aufstieg. Als „Zugereister“ hatte er allerdings zunächst wenig Einfluss in Göttingen und somit keinen Erfolg. Erst mit der Gründung des eigenen Unternehmens, der „Camlotten- unt Drogetten-Fabrique“ stellt sich der Erfolg ein. Nach seinem Tod ging der Betrieb 1846 in Konkurs. Das Unternehmen übernahm der in Göttingen geborene Hermann Levin.

Levin leitete in Göttingen das Industriezeitalter ein: er ließ in seiner Firma die erste Dampfmaschine errichten. Darüber hinaus gehörten für die Familie Levin auch soziale Einrichtungen zu einer modernen Fabrik. So entstanden eine Badeanstalt und ein Wohlfahrtshaus. Für die Mitarbeiter wurden kleine Parzellen verpachtet – ein geschickter Schachzug, um eine Abwanderung zu verhindern.

Erst die Weltwirtschaftskrise im Jahr 1929 konnte Levin stoppen. Er konnte seine Kredite nicht mehr bedienen und musste seine Firma schließen. „Nachdem auch die 1816 – im später eingemeindeten Weende – gegründete Tuchfabriek von Adolf Eberwein im Jahr 1966 stillgelegt wurde, endete schließlich das letzte Kapitel des Göttinger Tuchgewerbes.“, beschreibt Norman Lippert in seinem Text.

Er verweist in seinem Artikel auf die heute noch sichtbaren Spuren: es ist nicht nur der Tuchmacherweg (der vom Elliehäuser Weg abgeht) oder die Grätzel- und die Levinstraße, die an diese Zeit und die Unternehmerpersönlichkeiten erinnern. Lippert schreibt: „Auch die Walkemühle im Brauweg geht zurück auf eine 1357 durch die Göttinger Wollweber vom Kloster Bursfelde gekaufte Mühle. Für das damalige Textilgewerbe erleichterte die durch Wasserkraft angetriebene Mühle das vorher händisch durchgeführte Walken, also das Verfilzen der Wolle durch ständiges mechanisches Hämmern.“

Und natürlich darf auch der Levinsche Park nicht fehlen, der bis zur Schließung Teil der „Hermann Levin Wollwarenfabrik“ war. Der Teich bildete das Herzstück der um 1880 errichteten Parkanlage rund um die Fabrikantenvilla. Seit 1961 ist der Park im Besitz der Stadt Göttingen.

Bei der Lektüre dieses Textes habe ich nicht nur viel über das Tuchmacher-Gewerbe gelernt und habe einen Ausschnitt aus der Göttinger Stadtgeschichte erfahren, nein, ich habe den Text auch sehr gerne gelesen. Es ist ja nicht so einfach, eine Fülle von Wissen und Fakten in einen gut lesbaren Text zu fassen. Mitunter leidet die Sprache bei solchen Texten. Nicht so bei Norman Lippert. Er erfüllt damit ein weiteres Kriterium, das die Jury der Alexanderstiftung für die Texte gilt: sie sollen „allgemeinverständlich geschrieben“ sein – so steht es in der Satzung der Stiftung. Und das bedeutet für uns nicht nur, dass auch Laien einen solchen Text verstehen können, sondern dass auch ein Text gut lesbar ist, also gut mit der Deutschen Sprache umgehen kann.

Norman Lippert erfüllt also mit seinem Text alle Anforderungen an den Wettbewerb. Und darum hat sich die Jury der Alexanderstiftung dafür ausgesprochen, für diesen Text Norman Lippert mit dem ersten Preis auszuzeichnen. Herr Lippert, ich gratuliere Ihnen zum Alexanderpreis 2015.