Das Traumhaus

Laudatio von Claudia Weitemeyer für den Preisträger Josef Saller

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

alexanderpreis2020 2wir alle, die wir heute hier zur Verleihung des Alexanderpreises zusammengekommen sind, jeder von uns ist im Laufe seines Lebens sicher schon einmal in irgendeiner Form, an irgendeinem Punkt gescheitert. Vielleicht haben wir zeitweilig sogar mit unserem Schicksal gehadert. Und doch haben wir unsere Kräfte gesammelt, uns wieder aufgerappelt. Kurz gesagt und wie es so schön auf Lebensweisheiten und gut gemeinten Ratschlägen verströmenden Postkarten steht: Hinfallen, wieder aufstehen, Krone richten und weitergehen. Das gelingt nicht jedem. Und sich vom Scheitern nicht zu erholen, bedeutet häufig finanzieller und gesellschaftlicher Abstieg bis hin zur existenziellen Bedrohung.

Mitte der siebziger Jahre hätte in Göttingen niemand geglaubt, dass der damalige Prestigebau am Weender Tor einmal für Gescheiterte die letzte Option für zumindest ein Dach über dem Kopf sein würde. Das Iduna-Zentrum - von der gleichnamigen Versicherung Anfang der Siebziger in Auftrag gegeben und 1975 eingeweiht. Das für den damaligen Architekturzeitgeist moderne Gebäude mit zwei Brückenarmen auf den Campus der Universität und in die Göttinger Innenstadt beherbergt 407 Wohnungen auf 18 Stockwerken. Lichtdurchflutete, kleine Appartements mit Parkettfußboden und Balkon, kleiner Kochnische und Duschbad. Eben alles, was man so braucht. Das Hochhaus war begehrt bei Jungfamilien, Studierenden und als Geldanlage für gutsituierte Göttinger. Nette, kleine Ladengeschäfte, Gastronomie unterschiedlichster Couleur, ein hauseigenes Schwimmbad im Keller – und all das im Herzen der Stadt. Irgendwann verflog der Glanz und mit ihm verschwanden 1993 erst der eine und 10 Jahre später dann der andere Brückenarm. Als wollte man die Verbindung in die Gesellschaft kappen. Heute ist das Sozialamt dort stärkster Mieter, trägt die Kosten für die Menschen, die sich vom Scheitern nicht erholt haben. Hier findet man inzwischen die Mitglieder der Roma-Clans, Dealer und Junkies, Langzeitarbeitslose und Harz IV-Empfänger, Menschen in Altersarmut. Auch ein paar wenige Studenten und Azubis, die hinter ihrer verschlossenen Tür lernen und ansonsten die Nähe zu Uni und Innenstadt schätzen. Sucht man in Google nach Bewertungen für das Iduna-Zentrum, findet man z.B. „Zu vielen Leuten werden die Türen eingetreten. Man hat Angst, wenn man da wohnt, dass man verprügelt und überfallen wird. Würde ich nicht empfehlen!!!“ oder „Sorry, aber schön ist was anderes.“ Und „Sehr, sehr schlimmer Ort. Würde da nicht einziehen.“ bis hin zu „Das Grauen…“, „Nicht meins.“ und „Zu viele Ausländer.“.

Josef Saller, Redakteur im Ressort Gesellschaft des Magazins Stern, hat sich für seine Story über das Iduna-Zentrum, Spitzname Villa Kunterbunt, fast ein dreiviertel Jahr Zeit genommen. Recherchiert man seinen Namen, findet man neben seiner Göttinger „Traumhaus-Story“ schnell auch einen Beitrag über den tragischen Arbeitsalltag einer Sozialarbeiterin im Jugendamt Rostock. Ja, Saller sucht eher die schweren, die sensiblen Storys, die ohne Glanz und Glimmer, und eben oft auch ohne Happy End. „Ich finde Themen spannend, die einen sichtbaren Notstand in Deutschland aufzeigen, lege gern den Finger in die Wunde.“ erzählt Saller. Als Redakteur beim renommierten Stern würde man den überdurchschnittlich begabten Einstieg in das Metier bei Schüler- und Studentenzeitungen erwarten. Weit gefehlt: „Ich war ein echt schlechter Schüler. In Deutsch hatte ich eine 5. Gerade Schreiben war überhaupt nicht mein Ding.“ erzählt Saller. Ohne einen Plan, antwortet er seinen Eltern mit Anfang 20 auf die Frage, was er denn nun beruflich mal machen möchte: „Ach, ich werd dann mal Journalist.“ Er studiert in München und Wien, hängt sich in sozialpolitische, gesellschaftskritische Stories rein und entdeckt schnell sein Talent für’s Schreiben. Und so landet er 2017 von der Deutschen Journalistenschule direkt beim Stern. Geschrieben hat er seitdem auch u.a. für den Spiegel, das Magazin der Berliner Zeitung und die Süddeutsche.  

Aber was ist das nun eigentlich für eine Story über das Iduna-Zentrum, die uns Saller da erzählt? Es ist eine Geschichte über das Scheitern von Architektur und das Scheitern von Menschen, wie er selbst schreibt. Gemeinsam mit dem Fotografen Ingmar Björn Nolting recherchiert Saller acht Monate an seiner Göttinger Geschichte. Nolting bezieht sogar für ein paar Monate eine Wohnung dort. Saller selbst kommt sechs- bis siebenmal nach Göttingen und zieht für mehrere Tage bei Nolting auf eine Matratze. Er spricht mit unzähligen Menschen, mit ehemaligen Bewohnern, mit Sozial- und Baudezernenten, mit Sozialarbeitern, Drogenbeauftragten und Polizisten. Saller sieht hin, er nimmt sich Zeit, hört zu. Ganz besonders den Bewohnern. Und die sind erstmal echt skeptisch und ablehnend. Denn Anonymisierung ist im Iduna-Zentrum absolut gewünscht. Saller erzählt: „Die wollten keinen reißerischen Harz IV-Porno über sich. Die wollten sich ernst genommen fühlen, wollten sicher sein, dass sich jemand für sie und ihre Lebensgeschichte wirklich interessiert.“

Entstanden ist ein ehrlicher und ungeschminkter Blick hinter menschliche Kulissen, auf geplatzte Träume, auf Enttäuschungen vom Leben, von Menschen, auf Mut- und Hilflosigkeit. Aber auch auf einen unbändigen Überlebenswillen und auf Hoffnung.

Josef Saller hinterlässt mit seiner Geschichte beim Leser ein beklemmendes Gefühl, aber auch das von Dankbarkeit dafür, dass es einem selbst so gut geht. Und dann ist da noch die Demut vor dem, was vielleicht auch uns das Schicksal mal aus der Hand nehmen könnte.

Meine Damen und Herren, mit dem Alexanderpreis werden außergewöhnliche journalistische Arbeiten geehrt, die sich mit der „Vergangenheit der Stadt Göttingen und ihres Umfeldes“ beschäftigen. Josef Saller hat in unserer Stadt den Finger in eine Wunde gelegt. Eine Wunde, die viele Menschen in unserer wohlhabenden, akademikergeprägten „Stadt, die Wissen schafft“ eher verdrängen oder gern übersehen möchten. Seine Sicht auf die Menschen dort am Rande unserer Gesellschaft ist ohne Bewertung, geprägt von Respekt vor jedem einzelnen Schicksal. Das macht Mut, gerade in der heutigen Zeit! Lieber Josef Saller, danke Ihnen dafür!

Die Alexanderstiftung verleiht deshalb dem Journalisten Josef Saller den dritten Alexanderpreis 2020 für seine Story „Das Traumhaus“ über das Iduna-Zentrum Göttingen, erschienen im Mai 2019 im Magazin Stern. Herzlichen Glückwunsch!