Wie es früher in Göttingen einmal war

Laudatio von Jens Wortmann zum Sonderpreis an Friedrich-W. Klemme

Das Kapitel "Bäder in Göttingen" aus dem prämierten Buch finden Sie hier

Lieber, sehr verehrter Herr Klemme, meine sehr verehrten Damen und Herren,

laut unseren Statuten haben die Mitglieder der Jury ein Vorschlagsrecht und können von sich aus Texte zur Prämierung vorschlagen. So kommt es immer wieder einmal vor, dass wir Autorinnen und Autoren auszeichnen, die von ihrem Glück durchaus überrascht waren. Als es um Vorschläge für den aktuellen Wettbewerb ging, hat sich unser Jurymitglied Wolfgang Just gemeldet und von einem Buch erzählt, dass er auf nachbarschaftlichem Weg erhalten hat. Das hat mich natürlich interessiert, und so habe ich das Buch erhalten und sofort gelesen.

Nun gehören Bücher eigentlich nicht zu dem Aufgabengebiet der Alexanderstiftung. Auch wäre die Jury mit der Lektüre ganzer Bücher reichlich überfordert. Und so haben wir zur Bewertung nur ein Kapitel herangezogen: „Die Bäder in Göttingen“.
„Hoch und wunderschön habe ich das alte Hallenbad im Stumpfebiel in Erinnerung. War es Jugendstil? Eigentlich eine unwichtige Frage. Denn im Vergleich mit den heutigen Badekästen hatte das alte Bad etwas, das heute selten geworden ist: Charakter“. So beginnen Sie dieses Kapitel und beschreiben dann die damalige Badelandschaft. Inklusive der strikten Geschlechtertrennung, der Schiefertafel des Bademeisters, mit der die Badezeiten und die Kabinennummern vermerkt wurden, sowie dem Kran am Beckenrand, an dem die Nichtschwimmer das Schwimmen lernen durften. Es sind keine großen Worte und keine großen literarischen Ergüsse. Sondern es sind Ihre Erinnerungen – so steht es auch schon auf dem Buchumschlag. Und diese Erinnerung sind persönlich und ausgesprochen lebendig.

Sie verbrachten Ihre Kindheit und die Jugendjahre in den Kriegs- und Nachkriegsjahren 1938 bis 1945 in Göttingen. Das alles ist schon lange her und war auch lange vor meiner Zeit. Dennoch erkenne ich, der jetzt seit über 25 Jahren in Göttingen lebt, vieles wieder. Das alte Stadtbad kenne ich nur von Bildern – und jetzt auch aus Erzählungen. Ich selber bin nur im Nachfolgebau gewesen und bin über den Abriss nicht böse. Dieser Nachfolgebau hat es immerhin in den Kanon der „Sieben Göttinger Bausünden“ gebracht, die Robert Gernhardt einmal zusammengestellt hat. Dafür durfte ich als Schüler in der alten „Goseriede“ in Hannover schwimmen. Das dürfte ganz ähnlich gewesen sein.

Mein Abschweifen zeigt deutlich, welchen Nerv Sie mit ihrem Buch treffen: auf jeder der 198 Seiten verknüpfen sich Ihre Erinnerungen mit eigenen Erinnerungen und Erfahrungen. Sie führen im Vorwort an: „Das Alter gestattet es, Rückblicke aus einer anderen Perspektive zu beschreiben. Manche Erinnerungen relativieren sich, andere verstärken sich und werfen Fragen auf, die bis heute unbeantwortet bleiben.“ So sind Ihre Texte gespickt mit Ihren persönlichen Einschätzungen zu den Dingen früher und heute. Und sie münden keineswegs immer mit der Aussage „früher war alles viel besser“.

Was soll ich sagen, lieber Herr Klemme: die Lektüre nicht nur dieses Kapitels, sondern des ganzen Buches hat mir und den Jurymitgliedern viel Freude bereitet. Und weil wir uns sicher sind, das Wolfgang Alexander diese Freude ebenfalls geteilt hätte und sicher ein Kapitel, zum Beispiel das mit den „Bädern in Göttingen“ in seinen Monatsblättern abgedruckt hätte, haben wir uns entschlossen, Ihre Arbeit mit einem Sonderpreis zu würdigen.

Herzlichen Glückwunsch!